Kempten: Welche Rolle spielte die Stadtverwaltung in der NS-Zeit?

Kempten - Welche Rolle spielten die Stadtverwaltungen in der NS-Zeit? Dieser Frage ging Prof. Dr. Andreas Wirsching vom Institut für Zeitgeschichte München - Berlin im fast vollbesetzten Schönen Saal der Sing- und Musikschule in Kempten nach. Der Vortrag fand im Rahmen der Aufarbeitung Kemptens mit der eigenen NS-Vergangenheit statt.
Professor Wirschings Vortrag beginnt mit dem Fall Josef Mayr. Es ist ein Fall, der die Selbststilisierung der Deutschen nach 1945 aufzeigt. In der Weimarer Republik war Mayr ein tüchtiger Gemeindebeamter im gehobenen Dienst, zugleich aktiver Nationalsozialist. Ende 1934 wurde Mayr Oberbürgermeister von Augsburg, sich und seine Kollegen beschrieb er als „Soldaten des Führers“. Nachdem Oberbürgermeister Mayr im April 1945 festgenommen und später als Mitläufer verurteilt wurde, ließ Mayr nicht davon ab seine Unschuld zu beteuern. „Josef Mayrs Fall ist unspektakulär“, so Wirsching, „aber bezeichnend, Mayr steht repräsentativ für das Selbstbild führender nationalsozialistischer Beamter nach 1945.“ Sie sahen sich als unpolitische Verwaltungsexperten, die im Dritten Reich lediglich ihre „Pflicht“ getan und womöglich „Schlimmeres verhütet“ hätten.
„Für unzählige Städte in Deutschland war das die vorherrschende Interpretation ihrer Rolle während der NS-Diktatur. Vor allem in den kleineren Städten – und das kennen Sie ja sehr gut hier in Kempten“, fährt Wirsching fort, „ist diese Erzählung erst in jüngster Zeit erschüttert worden. Und wenn die Selbststilisierung so mancher lokaler Honoratioren mit den Quellen konfrontiert wird, erzeugt das auch heute noch Konflikte, die mit Bitternis und großer Schärfe ausgetragen werden“.
Kempten arbeitet NS-Zeit auf
Millionen von Toten, Flucht, Vertreibung und zerbombte Städte: dass sich die Deutschen nach 1945 primär als Opfer sahen, schien „bis zu einem gewissen Punkt plausibel“. Aus dieser Sicht trugen Hitler und sein näheres Umfeld die alleinige Verantwortung. Doch in den letzten drei Jahrzehnten hat die historische Forschung dieses Bild „eigentlich vom Kopf auf die Füße“ gestellt und gezeigt, „dass Millionen von Deutschen – und darunter eben auch die große Mehrzahl der Verwaltungsbeamten – aus voller Überzeugung beim Aufbau des Dritten Reiches mitmachten“. Der Terror und die massenhafte Zustimmung gehörten im NS-Regime zusammen.
Die Rolle der Stadtverwaltungen im NS-Regime
Im NS-Regime verloren die Städte Kompetenzen. Trotzdem verwalteten die Kommunen noch weite Bereiche des alltäglichen Lebens und trugen mit ihrer auf Daseinsvorsorge und Bürgernähe hin orientierten Praxis dazu bei, dass nationalsozialistische Vorgaben reibungslos durchgeführt wurden. „Wo immer die Kommunalverwaltungen eigene Bewegungsspielräume behielten, nutzten sie sie in aller Regel extensiv und ohne äußere Notwendigkeit zur Diskriminierung und Entrechtung der jüdischen Einwohner.“
Das zeigt sich beispielsweise daran, dass trotz fehlender „gesetzlicher” Grundlage Eheschließungen zwischen „arischen” und jüdischen Deutschen massiv erschwert wurden. Zahlreiche Gemeinden hatten auf eigene Initiative Juden die Benutzung von städtischen Schwimmbädern untersagt, bevor eine entsprechende Richtlinie 1936 durch das Reichsinnenministerium erlassen wurde. In ebenso vorauseilendem Gehorsam arbeitete ein Großteil der Gemeinden aktiv daran, „die jüdischen Gewerbetreibenden ökonomisch zurückzudrängen und zu entrechten.“ Der Antisemitismus war „keineswegs eine von oben nach unten durchgesetzte Angelegenheit“ und die Stadtverwaltung beteiligte sich aktiv bei der Judenverfolgung – bis hin zur Deportation und machte sie erst möglich. Somit könne die Standarderzählung der Deutschen nach 1945, vom Holocaust nichts gewusst zu haben, auch nicht für die Repräsentanten der Stadtverwaltung gelten.
Beispiel aus Kempten während der NS-Zeit
Ein Beispiel, wie die Geschichte im Nachhinein verzerrt wurde, liefert Wirsching im Übrigen für Kempten. Der damalige Oberbürgermeister Otto Merkt hatte den Aufstieg des Nationalsozialismus „mit Sympathien begleitet“ und trat im April 1933 der NSDAP bei. Doch sein „eigenwilliger Führungsstil“ verschlechterte das Verhältnis zur SA-Führung. Merkt schrieb regelmäßig Beschwerden an die Behörden. Beispielsweise beklagte er sich 1935 über die enorme Arbeitslast der Gemeinden, seitdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten. Der Streit eskalierte 1942 wegen einer Eingemeindungsfrage. Merkt wurde aus seinem Amt ehrenvoll entlassen. Solche Konflikte waren typisch für das NS-Regime, allerdings sind sie häufig fehlinterpretiert worden, so Wirsching. Unzählige Amtsträger des NS-Regimes deklarierten persönliche Rivalitäten oder banale Auseinandersetzungen nach 1945 als politisch motiviert. So stilisierten sie sich selbst als oppositionell. „In den Spruchkammerverfahren unmittelbar nach 1945 funktionierte das häufig ziemlich gut“, erklärte Wirsching. Es funktionierte auch für Otto Merkt. Der wurde als „entlastet“ eingestuft.