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Wie leben Flüchtlinge aus der Ukraine im Allgäu?

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Von: Jörg Spielberg

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Der „Infopoint Ukraine“ Kempten am Sankt-Mang-Platz
Der „Infopoint Ukraine“ Kempten am Sankt-Mang-Platz ist ein Treffpunkt für viele ukrainische Flüchtlinge geworden: Dort wird den Kriegsflüchtlingen in allen Lebensfragen montags und freitags, u.a. durch die Diakonie Kempten, mit Rat und Tat zur Seite gestanden. © Ruslan Smakov

Kempten/Allgäu – Wie leben und was bewegt die geflüchteten, ukrainischen Menschen im Allgäu – ein Jahr nach der Invasion russischer Truppen?

Am 24. Februar des vergangenen Jahres drangen russische Truppen völkerrechtswidrig in das Staatsgebiet der Ukraine ein. Ziel war es, schnell die Hauptstadt Kiew zu erobern und die frei gewählte Regierung der Ukraine zu stürzen.

Das misslang und es entwickelte sich bis heute ein nicht enden wollender Stellungskrieg in den Oblasken Kherson, Zaporizhia, Donetsk und Luhansk. Seither verlassen Millionen von Menschen die Ukraine (Stand Februar 2023: 8,05 Millionen nach Europa, davon 1,04 Millionen als registrierte Flüchtlinge in Deutschland, Quelle UNHCR/BMI).

Die ersten ukrainischen Flüchtlinge erreichten das Allgäu

Mitte März 2022 erreichten die ersten Flüchtlinge, Frauen und Kinder, die visafrei nach Deutschland einreisen durften, das Allgäu. Diese kamen bei Freunden und Verwandten unter, für andere wurden Notunterkünfte, wie in Rettenberg und Bad Wörishofen, eingerichtet. Schnell bildeten die kreisfreien Städte und Landkreise Anlaufstellen für Ukrainer, mit dem Ziel Wohnungseigentümer und Flüchtlinge zusammenzubringen.

In Kempten bildete sich auf Initiative eines Teams rund um die Schulleiterin Nadja von Thaden eine Willkommensgruppe, in der ukrainische Frauen aus dem gesamten Oberallgäu sich zweimal die Woche treffen und vernetzen konnten. Diese Initiative wurde später durch die Bezirksregierung Schwaben ausgezeichnet. Im März 2022 waren rund 4.400 ukrainische Flüchtlinge in vier Landkreisen und drei kreisfreien Städten angekommen. 

Was seitdem geschah…

Ein Jahr danach haben sich viele der ukrainischen Flüchtlinge an ihre neue Heimat gewöhnt, wenngleich bei vielen der Wunsch besteht, zeitnah in ihre Heimat zurückzukehren, wie Inessa Fessler zu erzählen weiß. Inessa Fessler, die selbst 2016 nach Deutschland als Spätaussiedlerin immigrierte, engagiert sich für ihre geflüchteten Landsleute und tut dies im Rahmen eines ukrainischen Kulturvereins sowie als ehrenamtliche Unterstützerin der Integrationslotsinnen von „Asyl in Kempten“, einer Einrichtung der Diakonie Kempten.

Die meisten der Geflüchteten leben heute in kleinen Wohnungen (74 Prozent), in Hotels und Pensionen (17 Prozent) und nur wenige in Gemeinschaftsunterkünften (neun Prozent). Nur wenige der Ukrainerinnen sind erwerbstätig (17 Prozent), da viele von ihnen kleine Kinder haben, die beaufsichtigt werden müssen. 

Häufig werden Qualifikationsnachweise nicht anerkannt

Erwerbsfähige Flüchtlinge sind beim Jobcenter gemeldet. Manche können in Arbeitsverhältnisse u.a. in der Gastronomie, Hotellerie und Gebäudereinigung vermittelt werden, andere erhalten dort seit dem 1. Juni 2022 Arbeitslosengeld IV, seit dem 1. Januar 2023 das neue Bürgergeld. In den Bereich der Pflege können bisher nur wenige vermittelt werden, da qualifizierte Ausbildungen und das Beherrschen der deutschen Sprache Voraussetzung sind.

Allerdings, liegen Qualifikationsnachweise vor, werden diese häufig nicht anerkannt – 72 Prozent der Geflüchteten verfügen über einen Hochschulabschluss. Für ukrainische Rentner ist das Sozialamt zuständig, dort werden Zahlungen aus ukrainischer Rente mit den Ansprüchen auf Sozialleistungen verrechnet. Wer sich etwas dazu verdienen möchte, bekommt dies vom Bürgergeld abgezogen. Mit dem Erlernen der deutschen Sprache tun sich viele noch schwer. Nur vier Prozent verfügen über deutsche Sprachkenntnisse, die Hälfte der Kriegsflüchtlinge besucht Deutschkurse. Derzeit gibt es in Kempten sechs Einrichtungen, die Sprachkurse für Ukrainer anbieten. Aktuell leben in Bayern rund 180.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge. 

Neue fremde Heimat? 

Allgemein gelten Flüchtlingskinder aus der Ukraine als sehr diszipliniert, fleißig und akkurat, wie es auch Schulleiterin Nadja von Thaden zu bestätigen weiß. Für die ukrainischen Kinder wurden seit Mitte 2022 „Brückenklassen“ eingerichtet. Deren Ziel ist es, dass die Kinder und Jugendlichen schnell die deutsche Sprache erlernen und sich im bayerischen Schulsystem orientieren können, so dass sie künftig dem Regelunterricht folgen und begabungsgerecht gefördert werden können.

Dass bereits nach der vierten Klasse Schüler getrennt auf weiterführende Schulen geschickt werden, kennen die Ukrainerinnen nicht. „Ich denke, die Kinder in Deutschland werden zu früh nach ihrem Leistungsstand getrennt, das ist anders als in der Ukraine. Nicht allein die schulische Laufbahn sondern Talent, Fleiß und Wille entscheiden in der Ukraine darüber, wer später welchen Beruf ergreift“, erzählt Inessa Fessler. „Wir legen in der Ukraine Wert auf Disziplin und setzen die Schwerpunkte im Unterricht auf Mathematik, Englisch, aber auch auf Kunsterziehung und Musizieren“, berichtet Fessler. So ist es nun häufig Usus, dass die ukrainischen Kinder am Vormittag in den Brückenklassen beschult werden und am Nachmittag online aus der Ukraine. 

In Deutschland läuft manches anders

Es sind eben diese unterschiedlichen Gepflogenheiten, an die sich die Geflüchteten noch gewöhnen müssen. Das gilt auch für das Wohnen. „In der Ukraine ist der Anteil an Mietern viel geringer, die meisten besitzen Eigentumswohnungen oder Häuser“, so Fessler. Auch bei den Autos läuft manches anders.

Die in der Ukraine zugelassenen Fahrzeuge erfüllen nicht die deutschen Umwelt-Standards. Jetzt, nach einem Jahr, werden die Halter dieser Fahrzeuge aufgefordert, diese umzurüsten. Diese vielen Tücken des Alltags lassen manche an eine Rückkehr in die Ukraine denken. 

Das zweite Gesicht Putins

Ein Leben in der Ukraine erscheint den meisten aber nur dann möglich, wenn es gelingt die Ukraine unabhängig von Putins Einfluss zu halten. Viele fürchten die Pläne Putins für ein „Novorossiya“, das heißt ein Zusammenschluss Russlands, Weissrusslands, Kasachstans und der Ukraine zu einem totalitär geführten postsowjetischen Zentralstaat, so Inessa Fessler. Dabei waren auch die Ukrainer Wladimir Putin durchaus aufgeschlossen, als er 1999 die Nachfolge des unbeliebten und erfolglosen Boris Jelzin antrat.

„Putin war jung, sportlich, er wollte Reformen und mit dem Westen kooperieren, das gefiel auch vielen Ukrainern“, erinnert sich Fessler. „Putins Reaktion im Jahr 2000 auf den Untergang des russischen Atom-U-Boot ‚Kursk‘, hat aber vielen bereits damals das zweite Gesicht des Kremlherrschers gezeigt.“ Eine Erhebung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zeigt aktuell: 37 Prozent der Geflüchteten möchten für immer oder mehrere Jahre in Deutschland bleiben, 34 Prozent bis Kriegsende, 27 Prozent sind noch unentschieden und zwei Prozent planen, Deutschland innerhalb eines Jahres wieder zu verlassen. Die im Text zitierten Prozentzahlen sind dem Report „Geflüchtete aus der Ukraine“ des BAMF entnommen

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