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Mit Kopf und Herz stolpern

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Ein Bus brachte am 16. November 1944 Patienten aus Hannover nach Irsee. Es war ein kalter Tag und die im Bus sitzenden Menschen seien in einer „erbarmungswürdigen Verfassung“ gewesen, erzählt Professor Ottfried Brieger. Er lebt heute in den U.S.A. und ist der Sohn von Anna Brieger, die 1905 in Berlin geboren wurde und an dem 16. November auch in dem Bus saß. Am 13. Dezember 1944 wurde im Totenschein festgehalten, dass sie an Herzschwäche gestorben sei. In Wirklichkeit wurde sie mit Tabletten umgebracht. Gegen das Vergessen der dunklen Geschichte der Kreis-Irren-Anstalt verlegte der Kölner Künstler, Gunter Demnig, am Samstag vor dem Kloster drei „Stolpersteine“, die die Namen Anna Brieger, Maria Rosa Bechter und Ernst Lossa tragen. Diese drei Menschen stehen symbolisch mit ihren Namen und Geschichten für die gewaltsame Tötung von über 2000 Menschen in der Kreis-Irren-Anstalt während des NS-Regimes.

Demnig schreibt auf seiner Homepage, dass ein Mensch erst vergessen sei, wenn sein Name vergessen ist. Drei Namen werden gegen das Vergessen nun in Irsee ankämpfen und dadurch zu einer Mahnung für die Zukunft werden. Mit der Verlegung der Steine würde der „Verletzlichkeit des Lebens“ gedacht werden, sagte Alfons Weber, Bezirkstagspräsident des Bezirks Schwaben. Dr. Stefan Raueiser, Bildungszentrum Irsee, der zusammen mit Professor Dr. Michael von Cranach, ehemaliger Ärztlicher Direktor, BKH Kaufbeuren, und Bertram Sellner, 2. Bürgermeister Irsee, die Setzung der Stolpersteine angeregt hat, hofft darauf, dass über „das Stolpern die Menschen in Kommunikation treten“. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kreis-Irren-Anstalt in Irsee und damit verbunden auch mit der Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren, später Bezirkskrankenhaus (BKH), hat bis in die heutige Zeit Bestand. Noch immer kämen viele Briefe im BKH von Angehörigen an, die sich über Einzelschicksale erkundigen, erzählt von Cranach. Ein Brief kam auch von Magister Markus Wallner, Landesstatthalter für Vorarlberg. Denn unter den Opfern in Irsee waren auch fünf Vorarlberger - darunter die achtjährige Maria Rosa Bechter, die 1935 in Lenge- nau/Bregenz geboren wurde. Die Dorfhebamme habe damals die kleine Maria angezeigt, da sie taub und „geistig beeinträchtig“ gewesen sei, sagt Wallner. Am 3. Juli 1942 kam Maria in die Kinderabteilung der Kreis-Irren-Anstalt in Irsee und verstarb dort „angeblich an Lungenentzündung“. Die Wirklichkeit ist eine andere. Auch die achtjährige Maria wurde ermordet. Wichtig sei für die Vorarlberger, wie Wallner betont, dass „auch jenseits der Grenzen Österreichs der österreichischen Opfer gedacht wird“. Auch Ilse Bechter, eine Schwester von Maria Rosa Bechter, war bei der Setzung der Steine anwesend. Als sie von dem Tod ihrer Schwester erfahren habe, „wurde sie bis in ihre Wurzeln erschüttert“, da die schreckliche Geschichte des NS-Regimes nicht mehr weit weg war, sondern sie ganz persönlich betraf. Es gehe bei den Stoplersteinen nicht um Schuldzuweisung, sondern darum „ein Zeichen zu setzten und der Opfer zu erinnern“, betonte Inge Lechner, 3. Irseer Bürgermeisterin. An einem Ort, an dem nun Kultur, Kreativität und Bildung im Mittelpunkt stünden, dürfe nicht vergessen werden, dass „wir eine Verpflichtung“ gegenüber der Vergangenheit haben, brachte es Norbert Kraxenberger, Geschäftsführendes Präsidialmitglied, Verband der bayerischen Bezirke, auf den Punkt. „Wir schweigen Menschen nicht tot“. Unvorstellbar ist es für ihn, dass Menschen in der Kreis-Irren-Anstalt getötet wurden, „die nicht krank waren, sondern nur aus der damaligen Norm gefallen sind“. So wurde Ernst Lossa, der 1929 in Augsburg geboren wurde, in seiner Krankenakte als „asozialer Psychopath“ betitelt. Ernst starb am 9. August 1944 in Irsee. Er wurde im Alter von 14 Jahren durch Injektion eines tödlichen Mittels umgebracht. Amalie Speidel, Ernsts Schwester, sei gerne zu der Gedenkfeier ihres Bruders gekommen, so die 78-Jährige, die noch nie zuvor über das Thema gesprochen habe, wie von Cranach betonte. Verlegt wurden die Stolpersteine anlässlich des 70. Jahrestages des nationalsozialistischen Euthanasieerlasses zu der als „Gnadentod“ getarnten Vernichtung angeblich „unwerten Lebens“. Die Pflastersteine, auf die eine Messingplatte mit den Namen aufgebracht wurde, sind nicht nur ein stilles Mahnmal, „wenn du sie lesen willst, dann musst du dich verbeugen“, erklärte der Künstler die Symbolik. Dass für viele Jugendliche diese Stolpersteine, die zur Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden, Euthanasieopfer oder auch Homosexueller gesetzt werden, eine Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der Geschichte sei, verdeutlichte der Künstler an einer Aussage eines Schülers. Dieser sagte bei einer Stolpersteinsetzung zu einem Journalisten: „Es geht nicht darum tatsächlich zu stolpern. Man stolpert mit dem Kopf und dem Herzen.“

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