»Sehr glücklich, hier sein zu können«

Altusried – Die Gemeinde Altusried hat im August vier Familien und drei allein- stehenden Männern aus Syrien und anderen Krisengebieten einen sicheren Zu- fluchtsort und ein neues Zuhause gegeben.
Die Flüchtlinge wurden dabei von der Bevölkerung mit viel Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit willkommen geheißen. Der syrische Familienvater Amro Kazzaz erzählt, wie er, seine Frau und seine zwei kleinen Kinder die Menschen hier wahrnehmen und wie sie sich nach den ersten Monaten eingelebt haben.
Er werde die Bilder nie mehr aus dem Kopf bekommen, sagt Amro Kazzaz. Bilder von brennenden Menschen, von Nachbarn, die im Bombenhagel sterben, von ganzen Straßenzügen, in denen kein Stein mehr auf dem anderen steht. Der 30-jährige gelernte Kaufmann musste mit ansehen, wie die Bomber kamen und die Straße, in der er, seine Eltern, Großeltern, Onkel und Tanten lebten, dem Erdboden gleich machten. Auch das florierende Bekleidungsgeschäft, das die Familie seit 1852 auf dem berühmten Markt von Aleppo führte, wurde zerstört. Innerhalb von Minuten stand die Familie vor dem Nichts. Was aus den vier Onkeln wurde, weiß niemand. „Meine Eltern und mein Bruder sind in den Libanon geflüchtet. Mit ihnen habe ich alle zwei bis drei Tage übers Internet Kontakt“, erzählt Amro Kazzaz. Die Großeltern sind zu alt und krank, um Syrien zu verlassen.
Zehn Tage nach dem verheerenden Angriff, bei dem sie sich mit nichts als den Kleidern am Leib retten konnten, flohen Amro, seine Frau Rivan und die beiden drei- und fünfjährigen Kinder in die Türkei. „Als junger Mann hat man in Syrien genau vier Möglichkeiten“, sagt Kazzaz. „Entweder du kämpfst auf der Seite von Assad oder du kämpfst für die Milizen. Wenn du beides nicht willst, wirst du erschossen – oder du verlässt das Land.“ Von Istanbul aus brachte sie ein Schlepper für 25 000 Dollar nach Deutschland, „weil ich wusste, dass es hier Frieden und Freiheit gibt.“ Acht Tage und Nächte musste die Familie, versteckt in einer Art Hohlraum hinter der Ladung eines großen LKW bei minimaler Luftzufuhr ausharren. Wie die Kinder diese Horrorfahrt überstanden? „Wer gesehen hat, was wir gesehen haben, für den ist so eine Fahrt das kleinere Problem“, lautet die Antwort, die das zurückliegende Grauen nur erahnen lässt. Am 5. Juli begann die Flucht der Familie, am 8. August kamen sie als erste von 17 erwachsenen Asylbewerbern und sechs Kindern (eine Frau erwartet im Januar ihr zweites Baby) in Altusried an, wo sie in einer ehemaligen Gaststätte an der Hauptstraße Quartier fanden.
Herzlicher Empfang
Die Kazzaz´ sind dankbar für den herzlichen Empfang, den die hiesige Bevölkerung ihnen bereitet hat. „Die Menschen hier sind so freundlich und hilfsbereit. Sie haben uns von Anfang an unterstützt, wo es nur ging und uns alles erklärt, was wir wissen müssen. Wir sind sehr glücklich, hier sein zu können.“ Ihm gefalle es, in einem kleinen Ort zu sein, in dem jeder jeden und alles kennt, „wie einer großen Familie.“ Um eine schnelle Integration zu begünstigen, erhalten die Asylbewerber täglich mehrere Stunden Deutschunterricht vom Berufsförderungszentrum Kempten. Die Kleinkinder werden währenddessen von ehrenamtlichen Helferinnen betreut. Zwei Mädchen im Vorschulalter besuchen den gemeindlichen Kindergarten und haben hier bereits erste Freundschaften geschlossen.
Ein ehrenamtlich arbeitendes, sehr gut organisiertes örtliches Koordinationsteam mit Paten, einem Haustechniker, einer Sachspendenbörse sowie Übersetzern steht den neuen Mitbürgern in allen Lebenslagen mit Rat und Tat zur Seite und vermittelt bei Konflikten. „Das Zusammenleben in so einer Zwangs-WG ist natürlich extrem“, weiß der Sprecher des Koordinationsteams, Matthias Kolb. Nicht nur, dass es von Haus aus schwierig ist, mit so vielen Menschen auf engstem Raum zusammen zu leben. „Hier treffen auch sehr unterschiedliche religiöse und kulturelle Hintergründe aufeinander – die Menschen kommen ja aus Syrien, Pakistan, sowie aus Ost- und Westafrika –, dazu aus völlig verschiedenen sozialen Milieus, bis hin zur oberen Mittelschicht und vor allem mit extremen biografischen Belastungen. Viele sind traumatisiert, haben Schlimmes erlebt, ihre Heimat, ihr Hab und Gut und häufig nahestehende Menschen verloren. Sie brauchen erst einmal Schutz und einen Halt“, so Kolb.
Die Bereitschaft zu helfen und aktiv Kontakt aufzunehmen war und ist in weiten Teilen der Dorfbevölkerung groß. Für Vertrauen und ein Bewusstsein für die akute Not sorgten dabei sicherlich auch die im Gemeindeblatt offen dargestellten Famili- engeschichten der Neuankömmlinge. „Dadurch haben die Menschen gesehen, dass wir es nicht mit den vielzitierten Wirtschaftsflüchtlingen oder Kleinkriminellen zu tun haben, sondern mit ganz vernünftigen, gebildeten Menschen, in deren Land Krieg herrscht, oder die verfolgt wurden und deshalb geflohen sind.“
Er selbst habe die Menschen sehr unterschiedlich erlebt: aktiv, reserviert, verzweifelt, irritiert, hilflos, überrascht, for- dernd und dankbar. Dankbarkeit, oder der (vermeintliche) Mangel an derselben – auch so ein Thema, das ab und an für doch arg gebremsten Idealismus sorgt. Etwa, wenn ein junger Mann um einen neuen Laptop bittet. „Da schlucken schon manche.“ Dabei müsse man sich in die Rolle der Menschen hineinversetzen, appelliert Kolb. „Man darf den Lebensstandard, den die Menschen zuhause hatten, nicht unterschätzen. Da ist der Absturz bisweilen sehr tief. Besagter junger Mann aber wolle einfach nur unbedingt mit seiner Familie Zuhause Kontakt halten, was eben nur über einen leistungsfähigen Rechner möglich sei. „So etwas versuchen wir dann über sinnvolle Sachspenden zu regeln“, erklärt er und betont: „In der Summe gehen die Menschen sehr wertschätzend mit der Unterstützung um.“
Zudem seien sie allesamt sehr offen für unsere Kultur und daran interessiert, wie und mit welchen Werten unsere Gesellschaft funktioniere. Auch der Wunsch zu arbeiten, und sei es auch nur als unbezahlter Praktikant, sei bei allen Männern (diese waren in der unter anderem Heimat Maurer, Elektriker, Kaufmann oder Polizist) sehr groß. Das jedoch verbietet der Gesetzgeber, solange der Asylantrag nicht bewilligt ist. Bis der Bescheid kommt, können jedoch noch Monate vergehen. Für viele eine nervliche Zerreißprobe.
Natürlich habe er großes Heimweh, sagt Amro Kazzaz. Aber eben nach dem Syrien von früher. Jetzt würden er und seine Familie gerne in Altusried bleiben. „Wenn sie mich nicht hierbleiben lassen, dann bitte wenigstens meine Kinder“, beschwört er. „Sie müssen einfach ein anderes Leben haben.“ Und noch einen Wunsch hat er: „Eines Tages möchte ich einen Brief an Angela Merkel schreiben, der allen Deutschen gelten soll und in dem nur steht: Danke für alles!“
Sabine Stodal