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Kempten feiert 60 Jahre Élysée-Vertrag

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Von: Helmut Hitscherich

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Alain Terrenoire, Präsident der Paneuropa Union und Sohn des ehemaligen politischen Häftlings im KZ-Außenlager in
Kempten Louis Terrenoire, am Ort des Geschehens mit Stadtführerin Karin Lucke-Huss.
Alain Terrenoire, Präsident der Paneuropa Union und Sohn des ehemaligen politischen Häftlings im KZ-Außenlager in Kempten Louis Terrenoire, am Ort des Geschehens mit Stadtführerin Karin Lucke-Huss. © Hitscherich

Kempten – Seit 60 Jahren besteht der deutsch-französische Freundschaftsvertrag. Die Freundschaft wurde auch im Kemptener Rathaus zelebriert.

Rund 100 Gäste waren der Einladung der Paneuropa-Union ins Kemptener Rathaus gefolgt, um 60 Jahre Deutsch-Französischen Freundschaftsvertrag mit zahlreichen Ehrengästen zu feiern. In den Redebeiträgen wurde die große Bedeutung dieses Freundschaftsvertrags auch in heutiger Zeit deutlich. Vor dem Festakt besuchte eine kleine Gruppe der Gäste und Oberbürgermeister Thomas Kiechle das ehemalige KZ-Außenlager in Kempten in der heutigen Allgäuhalle. Besonders der Präsident der Paneuropa Union Alain Terrenoire äußerte sich „tief beeindruckt“ über die tiefgreifende Führung von Stadtführerin M.A. Karin Lucke-Huss. Alain Terrenoires Vater Louis Terrenoire war als Widerstandskämpfer in diesem KZ-Außenlager inhaftiert gewesen und habe, so der Sohn, über seine Erlebnisse dort geschwiegen. 

Vergangenen Freitag konnte Alain Terrenoire die Stätte besuchen, in der sein Vater Louis Terrenoire als polischer Häftling im KZ-Außenlager Kempten – heute: Allgäuhalle – gefangengehalten worden war. Seit 2004 ist Alain Terrenoire Präsident der Paneuropa-Union. Alain Terrenoire war Mitglied des Kabinetts von Verteidigungsminister Yvon Bourges in den 1970er Jahren. Er ist seit 1964 mit einer Deutschen verheiratet.

Besuch des ehemaligen KZ Außenlagers

Vor dem Festakt war der Besuch des ehemaligen KZ Außenlagers angezeigt. Stadtführerin Karin Lucke-Huss, M.A., lieferte beim Rundgang mit den Ehrengästen Alain Terrenoire und Bernd Posselt, Präsident der Paneruopa-Union Deutschland, begleitet von Oberbürgermeister Thomas Kiechle und weiteren Gästen, umfangreiches Hintergrundwissen. Alain Terrenoire: „Mich hat dieser Besuch sehr bewegt und ich war tief beeindruckt, auch für meine Familie. Jetzt konnte ich endlich sehen, wo mein Vater gelitten und überlebt hat und was er mit „Elefantenhalle“ gemeint hat.“

Sein Vater habe lange Jahre über die Erlebnisse und Ängste im KZ-Außenlager geschwiegen. Dieses war vom 15. September 1943 bis 25. April 1945 eines der 169 Außenlager des Konzentrationslagers Dachau. Im April 1944 waren es 300 Inhaftierte, im August kamen 300 bis 350 Franzosen hinzu. Die nun 500 bis 600 KZ-Zwangsarbeiter wurden vor allem im Auftrag von BMW bei der Helmuth Sachse KG eingesetzt. Wer schwerer krank wurde, wurde ins Konzentrationslager Dachau zurückgeschickt – für viele der sichere Tod. 

Wer war Louis Terrenoire? 

Louis Terrenoire war u.a. Führer der christlichen Gewerkschaften in Frankreich. Seit 1940 arbeitete er in der Résistance und wurde in 1943 Sekretär des „Conseil National de la Résistance“ (CNR). Im Dezember 1943 und noch einmal im März 1944 verhaftete ihn die Gestapo, überstellte ihn im Juni 1944 in das KZ Dachau und im August weiter in das KZ-Außenlager Kempten. Als 1945 die Amerikaner vor den Toren von Kempten standen, sollten die Häftlinge in einem Fußmarsch nach Pfronten verlegt werden. Louis Terrenoire gelang zusammen mit anderen die Flucht. Er schilderte die Zeit seiner Deportation später in dem „Buch Sursitaire de la mort lente“ („Aufschub eines langsamen Todes“).

Darin beschreibt er unter anderem die Zusammenarbeit zwischen Christen und Kommunisten, um im Konzentrationslager zu überleben. Nach der Befreiung wurde er 1946 Abgeordneter der Nationalversammlung, in den 1950ern war er Generalsekretär der gaullistischen Bewegung, Fraktionsvorsitzender in der Nationalversammlung und Anfang der 1960er Informationsminister, dann Staatssekretär für die Beziehungen mit dem Parlament. Er war Regierungssprecher von Charles de Gaulle und hat zusammen mit seinem Sohn Alain wesentlich an der Erarbeitung des Elysee-Vertrags, den Charles de Gaulle und Konrad Adenauer am 22. Januar 1963 unterzeichnet haben, mitgewirkt. Von 1962 bis 1973 gehörte Louis Terrenoire dem Europäischen Parlament an, fünf Jahre lang in der Funktion eines Vizepräsidenten. 

Was ist die Paneuropa-Union?

Die Paneuropa-Union wurde 1922 von Richard Coudenhove-Kalergi unter dem Eindruck der Schrecken des Ersten Weltkriegs gegründet. Dieser hatte ein Buch mit dem Titel „Paneuropa” veröffentlicht und rief zur Gründung einer Organisation auf, die die Umsetzung seiner europäischen Ideen fördern sollte. Ziel war die Vereinigung Europas bis hin zur Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa”, um den Frieden in Europa dauerhaft zu bewahren sowie Europas Weltgeltung zu sichern. Ab 1972 war Otto von Habsburg Präsident der Vereinigung. Er gestaltete diese erfolgreich zu einer Organisation um, die auch das im Ost-West-Konflikt „vergessene“ Mitteleuropa zum Thema machte. 1975 gründete Bernd Posselt die Paneuropa-Jugend Deutschland, deren jetziger Vorsitzender sein Neffe Franziskus Posselt ist.

Habsburg und die Paneuropa-Union förderten die Zusammenarbeit beidseits des Eisernen Vorhangs und knüpften Kontakte zu Bürgerrechtsorganisationen wie der Gewerkschaft Solidarnosc oder der Charta 77 und kirchlichen Institutionen in Polen, Ungarn, dem damaligen Jugoslawien und der Tschechoslowakei sowie im Baltikum. Otto von Habsburg richtete die Paneuropa-Union wieder als europaweite Breitenbewegung aus. Neben der französischen, der belgischen oder luxemburgischen Sektion spielten die Paneuropa-Bewegung Österreich und die Paneuropa-Union Deutschland an der Schnittstelle des Eisernen Vorhangs eine immer größere Rolle. Der deutsche Außenminister Gustav Stresemann unterstützte die Paneuropa-Idee ebenso wie der französische Ministerpräsident Aristide Briand. Spätere Unterstützer waren Winston Churchill, Robert Schuman und Konrad Adenauer. Als Unterstützer der Paneuropa-Union traten auch Albert Einstein und Thomas Mann schon 1925 dafür ein, die Vereinigten Staaten von Europa zu etablieren.

 (v.l.) Bernd Posselt (Präsident der Paneuropa-Union
 Deutschland) , Alain Terrenoire Präsident der Paneuropa Union), Generalkonsulin Corinne Pereira Da Silva, Bundesminister a.D. Dr. Dr.
 Theo Waigel mit Oberbürgermeister Thomas Kiechle.
Die Ehrengäste (v.l.) Bernd Posselt (Präsident der Paneuropa-Union Deutschland) , Alain Terrenoire Präsident der Paneuropa Union), Generalkonsulin Corinne Pereira Da Silva, Bundesminister a.D. Dr. Dr. Theo Waigel mit Oberbürgermeister Thomas Kiechle. © Hitscherich

Großer Festakt zum 60. Jubiläum

Anlässlich des 60jährigen Bestehens der Deutsch-Französischen Freundschaftsverträge – auch als Elysseé-Vertrag bekannt – lud die Paneuropa-Union Deutschland zum Festakt ins Kemptener Rathaus ein. Für Oberbürgermeister Thomas Kiechle war es „eine große Freude und Ehre“, diesen Empfang mit rund 100 geladenen Gästen abhalten zu dürfen, u.a. mit Vertretern der Paneuropa-Union Deutschland, Vertretern der Landsmannschaften für Sudetendeutschen, der Union der Vertriebenen und der Ukrainischen Gemeinde in Ulm/Neu Ulm. Mit dem Bundesminister a.D. Dr. Dr. Theo Waigel und der Generalkonsulin Corinne Pereira da Silve konnte Kiechle weitere Ehrengäste und Gastredner begrüßen. „Wir müssen immer wieder aufs Neue erkennen, die Bereitschaft und der Wille zur Zusammenarbeit, zum guten Zusammenleben, zu unseren gemeinsamen Werten in einer freiheitlichen Demokratie, zu Solidarität und Toleranz sind unverzichtbar für den Frieden zwischen den Menschen in unserem Land, in Europa und darüber hinaus“, so das Stadtoberhaupt.

Alle Redner thematisierten den derzeitigen Zustand der EU und die deutsch-französischen Beziehungen. Posselt plädierte in seiner Ansprache für einen grundlegenden Neustart in der deutsch-französischen Freundschaft, die nicht als „Direktorium” in der EU missverstanden werden dürfe. Corinne Pereira da Silva hob hervor, dass die deutsch-französische Freundschaft keinesfalls selbstverständlich sei und unbedingt von der Zivilgesellschaft mitgetragen werden müsse. „Der Elysee-Vertrag ist Symbol für die deutsch-französische Freundschaft.“ Waigel ging u.a. auf die Anfänge der EU ein und bedauerte, dass die nach nur wenigen Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beabsichtigte Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, mit der man eine gemeinsame europäische Armee schaffen wollte, im August 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Er lobte die Einführung des europäischen Währungssystems das von Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing 1978/1979 ausgearbeitet wurde, und war dankbar für die Einführung des Euro.

Persönliches Zeugnis 

Alain Terrenoire faszinierte die Zuhörer mit einem sehr persönlichen Zeugnis in deutscher Sprache, in dem er seine Familiengeschichte umriss. Das Thema Deutsch-Französischer Vertrag betreffe ihn unmittelbar, denn er habe in den sechziger Jahren seinen Vater bei dessen Ausarbeitung unterstützt und dabei eine junge heimatvertriebene Schlesierin als Übersetzerin der deutschen Texte ins Französische gewinnen können – bis zum heutigen Tage seine Ehefrau. Am Ende erhielt er für seine bewegende Rede einen lang anhaltenden Applaus. Der deutsch-französische Festakt endete mit dem Eintrag der Ehrengäste ins Goldene Buch der Stadt Kempten sowie dem Musikstück „Gebet für die Ukraine”.

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