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Aufarbeitung und Erinnerungskultur weit über die NS-Zeit hinaus beschlossen

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Blick auf das Kemptener Rathaus und des Rathausplatz
Die Stadt Kempten hat die Aufarbeitung der Geschichte und Erinnerungskultur beschlossen. © Symbolbild: Panthermedia/Michael Unterrainer

Kempten – Anstoß für die Beschäftigung der Stadt mit ihrer NS-Vergangenheit hatte die rund zwei Jahre andauernde Diskussion um die Umbenennung der Knussertstraße gegeben, die in der Juli-Sitzung des Stadtrats nach zähem Ringen schließlich beschlossen worden war. Teil des Beschlusses war zudem, dass ein Konzept für die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus in Kempten erarbeitet werden soll, im Kontext einer angemessenen Erinnerungskultur.

„Wir wissen nichts über Prozesse und Strukturen“, meinte Kulturamtsleiter Martin Fink vor dem Kulturausschuss vergangeneWoche, und nur wenig darüber wie die Stadtverwaltung agiert habe. Deshalb soll eine eigene Kommission gegründet werden, die das Thema Straßenumbenennung nicht einfach schnell abarbeiten soll. Vielmehr soll in einem Prozess, „der auch über Jahre dauern kann“, wie Fink sagte, die Erinnerungskultur kontinuierlich hinterfragt und diskutiert werden, um zu klären, „wie möchten wir uns an die NS-Zeit erinnern?“.

Gleichermaßen sollen andere Themen dabei berücksichtigt werden, wie z.B. die Vertriebenen oder auch das schon weiter zurückliegende Hexentreiben. Eine entsprechende Empfehlung für den Stadtrat hat der Kulturausschuss in seiner letzten Sitzung einstimmig beschlossen. Anregungen für die Besetzung der Kommission (siehe Infokasten) gab es auch zu der schon langen Vorschlagsliste reichlich, was sowohl von OB Thomas Kiechle als auch von Fink ausgebremst wurde, da bezüglich der Größe sicher „15 besser als 30“ sei, um voran zu kommen. Generell soll zwischen zwei Themenbereichen unterschieden werden:

1. Die Erinnerungskultur, für die es noch reichlich Diskussionsbedarf gebe und das nicht nur bei Straßennamen, sondern auch beispielsweise an Orten wie dem Gelände der Allgäuhalle, einst Außenstelle des KZ Dachau; und 2. die laut Fink „wesentlich komplexere“ Aufarbeitung der NS-Zeit, die durch ein breit angelegtes und wissenschaftlich betreutes Projekt erfolgen und auch die BürgerInnen mit einbeziehen.

Das Projekt „ist aus unserer Sicht sehr schnell umzusetzen“. Ein Feinkonzept mit Finanzierungsmodellen soll in einer der nächsten Sitzungen des Kulturausschusses vorgestellt werden. Für 2021 seien bereits Vermittlungsprojekte, Vorträge und Zeitzeugenprojekte geplant. Gerade beim Zeitzeugenprojekt „läuft uns die Zeit schon weg“, so Finks Hinweis auf die allmählich wegsterbende Generation.

Deshalb müsse es unbedingt im nächsten Jahr stattfinden. Für OB Thomas Kiechle „liegt es auf der Hand“, dass man sich 75 Jahre nach Kriegsende fragen müsse, wie man sich erinnern wolle. Ebenso müsse hinterfragt werden, ob „die tradierten Möglichkeiten noch für die Zukunft taugen, für die Jugend?“, meinte er mit Blick auf die „rechtsradikalen Tendenzen in der Gesellschaft“.

Um in die Tiefe gehen zu können, dürften die Dinge auch Zeit brauchen, betonte er und sah einen Schwerpunkt der Arbeit im Bereich Schule und Jugend. Die Jugend allerdings war genau die Personengruppe, die Lajos Fischer (Die Grünen) auf der Liste für die Kommission vermisste. Andreas Kibler (Freie Wähler) empfahl, die Leiterin des Stadtmuseums in die Kommission aufzunehmen, da sie auch die Ausstellungen zum Thema durchführe – ein Vorschlag, dem das Gremium folgte.

Laut Haushaltsaufstellung des Kulturamtes sollen im kommenden Jahr 50.000 Euro in die Aufarbeitung der NS-Zeit fließen. 10.000 Euro sind für die Gründung der Kommission vorgesehen. Auch der Heimatverein hat sich in seiner Jahreshauptversammlung mit dem Thema befasst und Stellung (siehe Infobox unten) bezogen.

Christine Tröger

Eine Chance für die Demokratie – Heimatverein Kempten bezieht Position zur aktuellen NS-Debatte

Kempten – Der Heimatverein Kempten e. V. hat eine Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um eine künftige Kemptener Erinnerungskultur erarbeitet und in seiner Vorstands- und Beiratssitzung im Oktober verabschiedet. Demnach begrüßt der Verein „die Debatte um die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit“ und sieht sie als „Chance“, das „demokratische Bewusstsein“ zu stärken. Dem „notwendigen kritischen Diskurs“ will der Heimatverein selbst „als Plattform“ dienen und für eine „sachliche Auseinandersetzung“ ein „Forum für unterschiedliche Meinungen“ bieten. Vorrangige Aufgabe“ sei eine „möglichst breite wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Zeit in Kempten“; denn diese sei unabdingbare Voraussetzung einer durchdachten Erinnerungskultur und fehle „für weite Bereiche der derzeit diskutierten Thematik“.

Das Positionspapier betont, dass in der „Debatte über die damals handelnden Personen Untersuchung und Bewertung klar zu trennen“ seien, und mahnt an, „eine zu schematische Einordnung“ individueller Lebenswege „zu vermeiden“. Konkret nennt der Heimatverein als „zentrale Gestalt für die Epochen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus“ den langjährigen Kemptener Oberbürgermeister Dr. Otto Merkt und regt an, „dass die Stadt Kempten eine gründliche wissenschaftliche Aufarbeitung zu seiner Person initiiert und finanziell unterstützt“. Außerdem ruft der Verein die Stadt dazu auf, mit „Ausstellungen, Podiumsdiskussionen, partizipativen Aktionen, Veranstaltungen mit Schülern“ und anderem „eine möglichst breite Öffentlichkeit“ in „alle Entscheidungen“ einzubeziehen.

Ein eigener Abschnitt der Stellungnahme ist den Kemptener Straßennamen „als wichtigem Teil der Erinnerungskultur“ im städtischen Raum gewidmet. Unter der Federführung seines Ersten Vorsitzenden Markus Naumann tritt der Heimatverein dafür ein, die „Benennung einer Straße nach einer Person nur aus schwerwiegenden Gründen“ zurückzunehmen. Als grundsätzliche Richtlinie für die Umbenennung von Straßen müsse „das Prinzip der historischen Gerechtigkeit und der Ausgewogenheit gelten, demzufolge vergleichbare Handlungen auch zu ähnlichen Konsequenzen führen“. Dementsprechend fordert der Verein, „die Debatte nicht nur über wenige, unter Umständen zufällig gewählte Beispiele zu führen, sondern über den gesamten Stadtraum“.

Zudem „sollten auch andere Formen der historischen Distanzierung und Differenzierung diskutiert werden“. Für „künftige Straßenbenennungen nach Persönlichkeiten“ schlägt er vor, insbesondere „die Vorbildwirkung der namensgebenden Person“ hinsichtlich ihres „Einsatzes für die Wahrung der Würde des Menschen, für Freiheit und Demokratie“ zu berücksichtigen.

kb

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