Viehscheid: Schwerstarbeit für Wengener Cowboys

Weitnau – Ausgerechnet zum Abschluss eines extrem heißen und trockenen Bergsommers kam es knüppeldick: Der Viehscheid musste bei Hagel, heftigem Regen und eiskalten Temperaturen über die Bühne gehen.
Die Hirten und Treiber standen klatschnass im knöcheltiefen Matsch, der Wind pfiff durchs Wengener Tal. Doch der Freude über das glückliche Ende des Sömmerns auf der Alpe Wenger Egg tat das keinen Abbruch. Zahlreiche Besucher feierten die zurückgekehrte Normalität bei Bier, Blasmusik und Schupfnudeln bis in den Abend. Sechs Uhr früh, oben auf dem Wenger Egg, fünf Grad plus. Nebel wabert durch die Nacht, mehrere Gestalten huschen über die regennassen Weiden. „Guten Morgen!“, ruft Alphirte Thomas Oberrieder in die Dunkelheit hinein. Er hat auch am Viehscheid-Morgen den Hut auf, dirigiert die Treiber zu ihrem Einsatz, lässt Absperrbänder spannen und erklärt den Plan, wie die Tiere zuerst in den Stall und danach ins Tal getrieben werden. „Im Stall nehmen wir ihnen die Weideschellen ab und legen die Zugschellen an“, erklärt Alphirtin Ramona Steidle, dick eingemummelt in Regenjacke, Mütze und feste Bergschuhe.
„Es war ein wunderbarer Sommer hier oben“, sagt sie strahlend, „wir hatten keine Probleme mit dem Wetter, alle Tiere sind gesund und wir konnten viele Wanderer und Radler bei uns zur Einkehr bewirten.“ Rein in den Stall, wo schon ein paar Dutzend Schumpen angeleint stehen und warten. „Die 41 fehlt“, schreit jemand. „Wo isch die 41?!“ Jedes Tier hat eine Nummer auf dem Fell. „I han die 91!“, ruft ein anderer zurück. Das hilft leider nicht weiter. Die Männer verrichten Schwerstarbeit. Mit vollem Körpereinsatz schieben sie ihre „ Sommerfrischler“ an den richtigen Platz, müssen ein paar Widerspenstige zähmen und schwitzen trotz der spätherbstlichen Temperaturen. Das anfänglich ohrenbetäubende Läuten der Schellen ebbt allmählich ab, nach einer Stunde „Rinder-Einparken“ bimmelt nur noch da und dort ein Glöckchen. Gespannte Ruhe vor dem Gang ins Tal.
Vorneweg die Kranzkühe
Als Erste machen sich Ramona und Thomas auf den Weg hinunter nach Wengen. Sie führen die beiden Kranzkühe bis zum Schlagbaum der Mautstelle oberhalb des Dorfes. Dort werden sie schon von Bärbel erwartet. „Ich helfe beim Aufkränzen der Kühe, seit fast drei Jahrzehnten schon“, sagt die gelernte Floristin und lacht. Der Viehscheid gehört zu ihrer Familie. Vogelbeeren, Hagebutten, Astern, Gold- und Silberdisteln, was der Spätsommer an Farben und Formen schenkt, das wird kunstvoll zum prächtigen Blumenschmuck komponiert. „So an die zehn Stunden arbeiten wir dran“, sagt Ramona und ist stolz auf das Ergebnis. Rund acht Kilogramm wiegt der Schmuck. Das erträgt nicht jede Kuh. Ohne vorheriges „Casting“ auf der Alp geht nichts. Thomas macht die Tiere am Schlagbaum fest, verlangt nach Stricken und Kabelbindern, es soll ja nichts verrutschen.
Wild und ungestüm: die Schumpen
Das „Bayerische Fernsehen“ ist hautnah dabei, Reporter Ralf Bücheler dreht einen Film für die Sendung „Unter unserem Himmel“ und freut sich: „Der Wengener Viehscheid ist einfach echt!“ Dann ziehen Ramona, Thomas und die beiden Kranz-Kühe los. Bärbel meldet den Abmarsch nach oben, grünes Licht für die 30 Treiber, ihre über 120 Schumpen auf schmaler Straße durch den Wald nach unten zu führen. Bald hört man sie. Erst als leises Rauschen aus dem Wald, dann immer lauter, wie eine akustische Kaskade fließen die Schellentöne über die Bergflanke, ergießen sich über die Wiesen und brechen plötzlich zwischen den Bäumen hervor: Die Schumpen kommen! Wild und ungestüm, neugierig die einen, etwas ängstlich die anderen. Die Treiber im Laufschritt nebenher und vorneweg. Ihre Rufe schaffen es kaum durch das Glockengewirr, mal bricht ein Jungtier aus, mal will eines nicht mehr weiter. Die Wengener Cowboys und -girls haben alle Hände voll zu tun, die wilde Herde in der Spur zu halten. Nach etwa dreieinhalb Kilometern ist der Alpabtrieb geschafft. In der Hauptstraße links und rechts viele Zuschauer, es wird fotografiert und gewunken und alle sind froh: Der Sommer hat ein gutes Ende.
Nach der Schlammschlacht eine heiße Dusche
Nur auf dem Scheidplatz geht’s nochmal rund: Knapp 130 Rinder auseinander zu dividieren, den wartenden Bauern das richtige Tier in den Anhänger zu bugsieren, das braucht Geduld, Kraft und Stehvermögen. Der heftige Regen hat das Geläuf tief und matschig gemacht. Alphirte Thomas und seine Leute laufen wie auf Eis, der Regen peitscht auf nackte, nasse Beine, die Schumpen sind widerspenstig und glitschig. Irgendwann aber ist die „Schlacht“ im Schlamm zu Ende, jedes Tier verstaut. Die Hirten genehmigen sich ein letztes Bier, wischen den Matsch aus dem Gesicht und von den Stiefeln und freuen sich nur noch auf das Eine: die heiße Dusche nach dem anstrengendsten, aber auch schönsten Tag des Jahres. Ramona und Thomas gehen noch in die Verlängerung, oben auf dem Wenger Egg und ganz ohne Rindviecher: „Wir bewirten Wanderer und Radfahrer erstmals bis zum 15. Oktober“, lädt die Alphirtin ein. Ihre selbstgebackenen Kuchen schmecken auch ohne Schellengeläut hervorragend, da oben in 1.000 Metern Höhe über dem Alltag.