Wagner, der auch den Arbeitskreis Demokratie der Landkreis Grünen leitet, hofft, im Rahmen einer Buchpräsentation zum Thema Antisemitismus im Februar weitere Schicksale vorstellen zu können. Denn: „Gerade in diesen Zeiten, in denen Alltagsrassismus und oft erschreckend offener Antisemitismus immer mehr zunehmen, müssen wir auch bei uns vor Ort die Erinnerungskultur aktiv leben.“
Jones-Gilch und Wagner stellen hier einige Schicksale vor, auf die sie bei ihrer Recherche gestoßen sind: „Weil Familie und alle ausgemordet worden“, schrieb 1948 Nina Lubrianecka, 22 Jahre alt, in gebrochenem Deutsch auf den CM 1 Antrag im Displaced Persons Camp in Geretsried als Begründung für ihren Auswanderungsantrag nach Palästina. Die junge Jüdin aus der Tschechoslowakei hatte die Konzentrationslager Ravensbrück, Buchenwald und Bergen-Belsen überlebt, ihre gesamte Familie jedoch im Holocaust verloren.
1946 lebte sie im – am 24. Januar 1946 erstmals erwähnten – DP-Camp Murnau im Hotel Post. Von dort aus arbeitete sie als Schreibkraft für das American Joint Distribution Committee (AJDC). Teil ihrer Arbeit war die Suche nach vermissten und ermordeten Juden. Die Adresse des AJDC in Murnau lautete Hotel Post, Raum 124.
Am 1. August 1946 wohnten insgesamt fünf jüdische Frauen und zwei jüdische Männer im Murnauer Hotel Post. Das verraten Dokumente des AJDC Bergen Belsen. Diese 1914 gegründete jüdische Hilfsorganisation unterstütze nach 1945 Überlebende des Holocaust bei der Auswanderung. Nach Kriegsende kehrten zahlreiche überlebende Juden in ihre osteuropäischen Heimatländer zurück. Wegen des dort herrschenden Antisemitismus und auch weil sie oft sämtliche Familienmitglieder verloren hatten, wollten viele überlebende Juden Europa verlassen. Sehr viele Menschen, vornehmlich aus osteuropäischen Staaten, waren durch den Zweiten Weltkrieg entwurzelt worden.
Die jüdischen Überlebenden des Holocaust waren eine besondere Gruppe. Diese kehrten wegen des Antisemitismus in ihren Heimatländern, wie Polen und der Tschechoslowakei, zunächst in die US-Besatzungszone in Süddeutschland zurück, die damals auch als „Wartesaal“ für Juden aus Osteuropa, auf der Flucht aus Europa nach Palästina oder in die USA, bekannt war. Während sie auf ihre Ausreise warteten, lebten die Überlebenden in zahlreichen DP-Camps.
In Murnau existierten fünf DP-Camps. Eines der ersten wurde im Hotel Post eingerichtet. Die Bewohner suchten im Auftrag der AJDC nach überlebenden Juden und nach den zahllosen Opfern des Holocaust. Noch 1948 wurde in einer Liste des Murnauer Ausländeramtes David Artman-Korbanski als „KZ-ler“ geführt. Aus seinem Antrag zur Registrierung von 1947 erfährt man, dass er wohl am Krieg zur Abwehr des deutschen Überfalls am 1. September 1939 als Soldat der polnischen Streitkräfte teilgenommen hatte. Nach der polnischen Niederlage wurden jüdische polnische Soldaten oft ausgesondert und teilweise ermordet. Artman-Korbanski wurde 1940 in das Ghetto Lodz verschleppt. Die Bewohner litten dort wegen der unzureichenden Nahrungszufuhr unter Unterernährung, starben sehr häufig an Krankheiten oder erfroren im Winter zum Teil auf offener Straße.
Im Juli 1944 beschloss Heinrich Himmler das Ghetto zu räumen und alle Juden töten zu lassen. SS-Männer verschleppten 65 000 Menschen in den Lagerkomplex Auschwitz. Als Techniker und damit begehrter Spezialist blieb Artman-Korbanski am Leben und kam Ende 1944 in das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Die hygienischen Bedingungen im völlig überfüllten Lager waren grauenhaft. 17 000 Häftlinge starben am grassierenden Fleckfieber.
Artman-Korbanski überlebte und wurde von dort in das Außenlager Geislingen des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof deportiert, von dort weiter in den größten Außenlagerkomplex des Konzentrationslagers Dachau, Allach. Dort produzierte BMW Flugzeugmotoren. Häftlinge mussten Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen leisten. Bis Februar 1945 stieg die Zahl der KZ-Häftlinge dort auf 10 000.
Am 11. April 1945 kam auch Jadwiga Borenstein, ebenfalls aus Geislingen kommend, in das Außenlager Allach. Bei ihrer Ankunft in Allach wurde ein falsches Geburtsdatum, der 16. Dezember 1914 statt 1916, in ihre Schreibstubenkarte eingetragen. In Allach herrschten damals entsetzliche Zustände: Viele Häftlinge litten unter Mangelernährung, Typhus und Ruhr. Häufig fanden Hinrichtungen wegen „Sabotage“, „Fluchtversuchen“ und „Essensdiebstahl“ statt.
Jadwigas Weg in die Freiheit ist annähernd vollständig bekannt. Nach der Befreiung lebte sie im Mai 1945 in Iffeldorf. Im Juli 1945 kam Borenstein dann ins Hotel Post nach Murnau. Doch auch in diesen schwierigen Zeiten gab es in der kleinen jüdischen Gemeinde Murnau Lichtblicke: Hier wurden Jadwiga und Artman-Korbanski ein Paar. Am 4. September 1947 wurde im Murnauer Krankenhaus ihre Tochter Hanna (Chana) geboren.
Diese Menschen, die buchstäblich alles verloren und grausamste Schicksale erlebt hatten, litten meist nicht nur unter gesundheitlichen, sondern auch unter enormen psychischen Belastungen. Die Chronik „Es kommen kalte Zeiten“ von Edith Raim, berichtet auf Seite 588, dass die Räumlichkeiten des Hotel Post damals sehr heruntergekommen gewesen seien. Während des Zweiten Weltkriegs gab es kaum Gelegenheit, Räumlichkeiten in Stand zu halten. Aber die Überlebenden des Holocaust hatten 1946 und in den Folgejahren mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Die Überlebenden suchten verzweifelt nach ihren Angehörigen und sie führten einen harten Kampf gegen die Behörden.
Seit die Arolsen Archive frei zugänglich sind und sich online durchsuchen lassen, können die Schicksale von immer mehr Opfern des NS-Regimes schnell, individuell und präzise ermittelt werden. Die heute erhältlichen Suchergebnisse – die oben genannten Schicksale sind nur ein kleiner Ausschnitt – lassen noch einiges an Aufarbeitungspotential für die Marktgemeinde Murnau und die umliegenden Gemeinden erahnen.
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Von Kreisbote